Zur Person

Dr. med. Matthias Türk ist Facharzt für Neurologie am Universitätsklinikum Erlangen (Direktor: Prof. Dr. med. Dr. h.c. Stefan Schwab). Als Sprecher des Neuromuskulären Zentrums Bayern-Mitte liegt sein Schwerpunkt auf der Versorgung von Patienten mit Muskel- und Nervenerkrankungen. 2019 erhielt er zusammen mit Prof. Dr. Armin Nagel den Ulrich Brodeßer-FSHD-Forschungspreis der Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke e.V. (DGM).

Prof. Dr. Ingo Froböse im Interview zu neuromuskulären Erkrankungen.

Definitionen:

  • Peripheres Nervensystem: Nervensystem, das außerhalb des zentralen Nervensystems (Gehirn und Rückenmark) liegt.
  • Neuromuskuläre Erkrankungen: Hierzu zählen eine Vielzahl an Störungen. Diese können die Motoneurone (Nerven, die einen Muskel kontrollieren), periphere Nerven, die Signalübertragung zwischen Nerv und Muskel sowie die Muskeln selbst betreffen. Zusammenfassend wird häufig der Begriff Muskelerkrankung verwendet, wenn auch dies nicht ganz korrekt ist.
  • Polyneuropathie: Dabei handelt es sich um eine Erkrankung mehrerer Nerven des peripheren Nervensystems. Ursachen sind oft Noxen, oder Vitaminmangel. Auch sind Autoimmunkrankheiten (zum Beispiel das akute Guillain-Barré-Syndrom) oder selten Erreger mögliche Auslöser. Zudem gibt es erblich bedingte Varianten.

Herr Dr. Türk, wenn von neuromuskulären Erkrankungen die Rede ist, sind damit Erkrankungen der Nerven und/oder Muskeln gemeint. Können Sie uns Beispiele hierfür nennen?

Am häufigsten sind sogenannte Polyneuropathien – also Erkrankungen peripherer Nerven. Sie äußern sich unter anderem durch Gefühlsstörungen und/oder Muskelschwäche in den Beinen, Füßen oder Armen und können verschiedene Ursachen haben.

Sie treten häufig im Rahmen von Diabetes mellitus, Vitaminmangel, Noxen wie Alkohol oder einer Chemotherapie auf. Seltener sind auch Vergiftungen oder entzündliche Varianten zum Beispiel durch Erreger wie Borrelien möglich. Bekannte Auslöser sind auch Autoimmunerkrankungen wie das akute Guillain-Barré-Syndrom, bei denen sich der Körper selbst angreift. Eine vererbbare Nervenerkrankung, bei der die motorischen Nerven/Motoneurone schwinden, stellt zum Beispiel die inzwischen behandelbare spinale Muskelatrophie (SMA) dar.

Den Störungen der Nerven stehen Beschwerden der Muskeln gegenüber. Zu den weitverbreitetsten Muskelerkrankungen zählt beispielsweise die Duchenne Muskeldystrophie, die sich durch eine bereits in der Kindheit auftretende Muskelschwäche insbesondere der körpernahen Muskulatur äußert.

Wie Nerven können sich Muskeln aber auch entzünden, was meist bei älteren Personen vorkommt. Auch bei Muskelerkrankungen sind Noxen wie Alkohol oder Medikamente mögliche Gründe der Beschwerden.

Schon gewusst?

Noxen sind Stoffe oder Umstände, sie sich negativ auf den Körper auswirken. Beispiele sind Alkohol und Medikamente.


Oft werden solche Krankheiten im allgemeinen Sprachgebrauch als Muskelschwund bezeichnet. Ist Muskelschwund auch eine neuromuskuläre Erkrankung?

Muskelschwund ist keine Erkrankung, sondern ein Symptom. Die Masse der Muskulatur nimmt ab und das kann unterschiedliche Gründe haben. Einerseits ist es möglich, dass der Muskel an sich erkrankt ist, andererseits kann der Nerv geschädigt sein, der den Muskel ansteuert und ihm sozusagen Befehle erteilt. Wenn kein Signal mehr kommt, stellt der Muskel irgendwann die Arbeit ein. Als Beispiel: Schneidet man sich bei einem Unfall einen Nerv durch, wird auch der angesteuerte Muskel schwinden, obwohl er selbst keinen Schaden genommen hat.

Die Masse des Muskels nimmt aber auch ab, wenn ein Patient zum Beispiel aufgrund einer Operation länger liegen muss oder mit steigendem Alter.


Welche Krankheit aus dem Spektrum der neuromuskulären Erkrankungen wird am häufigsten diagnostiziert?

Neuromuskuläre oder nur muskuläre Erkrankungen kommen abgesehen von Polyneuropathien sehr selten vor, zusammengefasst bei weniger als 1 von 1000 Einwohnern. Polyneuropathien treten dagegen sehr oft auf. Gerade mit steigendem Alter leiden Menschen mit einer höheren Wahrscheinlichkeit an einer Schädigung der Nerven. Das liegt mitunter daran, dass auch die Entstehung von Diabetes oder Vitaminstoffwechselstörungen mit den Jahren wahrscheinlicher wird.


Gibt es Risikogruppen für neuromuskuläre Erkrankungen?

Auch hier müssen wir zwischen den Krankheiten differenzieren. Bei Polyneuropathien beispielsweise ist es unter anderem der Lebensstil, der die Entstehung begünstigt. Zur Entstehung einer Polyneuropathie beitragen kann zum Beispiel eine Fehlernährung (Vitaminmangel), übermäßiger Alkoholkonsum, bestimmte Medikamente und Diabetes mellitus.


Gibt es Symptome, die Ihnen bei Muskelerkrankungen oft begegnen?

Neben der Abnahme der Muskelmasse sind hier Lähmungen zu nennen. Es kommen aber natürlich noch viele andere Phänomene hinzu. Muskelschmerzen zum Beispiel, wobei diese häufig auch bei vielen anderen Erkrankungen auftreten und nicht zwangsläufig auf eine primäre Erkrankung des Muskels hinweisen. Beide Merkmale sind aber Kernsymptome von Muskelerkrankungen. Auch Muskelkrämpfe treten häufig auf.


Ist ein Muskelkrampf dann gleich ein Grund zur Besorgnis?

Einen Muskelkrampf hatte vermutlich jeder schon mal – sei es aufgrund von zu großer Sportbelastung oder einem Ungleichgewicht der Elektrolyte. Für uns Ärzte stellt sich immer die Frage: Ist es ein Krampf mit harmlosem Hintergrund oder steckt eine schlimme Erkrankung dahinter? Gelegentliche Krämpfe sind unbedenklich. Bemerken Personen jedoch plötzlich inadäquate Veränderungen wie sehr lang andauernde oder häufige Krämpfe, oder treten Muskelkrämpfe beispielsweise zusammen mit Lähmungen oder Muskelschwund auf, sollte sie es untersuchen lassen.


Gibt es noch weitere Anzeichen bei Muskelerkrankungen?

Da nicht nur der Skelettmuskel betroffen sein muss, sondern auch der Herzmuskel, sind außerdem Beschwerden wie eine Herzschwäche oder Herzrhythmusstörungen möglich. Ist das Zwerchfell betroffen, kann es zu Atemstörungen kommen. Je nach Erkrankungsart kann der Patient weitere individuelle Symptome einer Muskelerkrankung entwickeln. Liegt beispielsweise eine Dystrophe Myotonie [Anm. d. Red.: Störung der Muskelentspannung] vor, fällt es unter anderem schwer, rasch seine Hand zu öffnen.


Und wie sieht es bei Beschwerden einer Polyneuropathie aus?

Einerseits kommt es hier auch zum Ausfall der Funktion, das heißt Lähmungen können vorkommen oder eben auch  Gefühlsstörungen und ein Taubheitsgefühl, das vergleichbar mit dem Gefühl nach der Spritze beim Zahnarzt ist. Ebenso sind Kribbel-Missempfindung also wie eine Art „Ameisenlaufen“ möglich oder eine sogenannte Allodynie. Hierbei werden Reize, die eigentlich nicht weh tun, schmerzhaft wahrgenommen.


Stellen wir uns vor, ein Patient kommt zu Ihnen mit inadäquaten Muskelschmerzen und Lähmungen – wie würde der Diagnoseweg aussehen?

Zu Beginn erfolgt eine sehr ausführliche Anamnese. Dabei wird den Beschwerden im Gespräch genauer auf den Grund gegangen. Vielleicht lagen die Beschwerden bereits in der Kindheit vor, ohne dass es der Patient wahrgenommen hat. Eventuell wurde der Patient schon im Schulsport immer als Letzter gewählt, weil körperliche Einschränkungen vorlagen. Oder ein Purzelbaum war damals schon eine Herausforderung. Mithilfe solcher Fragen versuchen wir, eine Entwicklungsanamnese aufzustellen.

Außerdem wollen wir mehr über die Familiengeschichte erfahren – leiden Angehörige bereits an neuromuskulären Erkrankungen? Wenn ja, könnte das ein Hinweis auf eine vererbbare Erkrankung sein. Auch ob andere Symptome oder Erkrankungen vorliegen, wird ermittelt. Zudem müssen wir über die mögliche Einnahme von Medikamenten Bescheid wissen, denn sie können ebenfalls Nebenwirkungen wie Muskelschmerzen auslösen.

Außerdem schauen wir uns alle Muskeln an. Wie sind die Reflexe? Gibt es Gefühlsstörungen? Auch mögliche Auffälligkeiten im MRT [Anm. d. Red.: Magnetresonanztomographie] und Ultraschall werden analysiert. Dann gibt es noch neurophysiologische Untersuchungen, damit können wir die Aktivität von Muskeln und Nerven messen.

Mit der EMG-Diagnostik, also einer Elektromyographie, testen wir die elektrische Aktivität vom Muskel. Wir piksen ihn mit einer kleinen Nadel und sehen zu, wie er agiert (oder arbeitet). Zum Schluss verordnen wir noch Laboruntersuchungen. Über Blutproben ermitteln Labormitarbeiter zum Beispiel den CK-Wert [Anm. d. Red.: Creatinkinase], der bei Muskelschäden erhöht sein kann. Ein weiterer Schritt, der nötig sein kann, ist die Nerven- oder Muskelbiopsie. Dabei entnehmen wir ein Stück eines Nervs oder Muskels und analysieren es genauer unter dem Mikroskop. Wir können dabei zum Beispiel erkennen, ob eine Entzündung, eine Enzymstörung oder eine Strukturstörung vorliegt.

Im letzten Schritt steht bei vererbbaren Erkrankungen die molekulargenetische Diagnostik zur Verfügung, die sich in den letzten Jahren stark weiterentwickelt hat. Durch das sogenannte Next Generation Sequencing [Anm. d. Red.: NGS] kann man heutzutage mehrere Gene auf einmal testen und so mögliche genetische Nerven- oder Muskelerkrankungen herausfinden.


Der Diagnoseweg scheint sehr lang und aufwendig zu sein. Warum sind molekulargenetische Analysen nicht immer gleich die Methode der Wahl?

Bei der Analysetechnik werden sehr viele Daten generiert. Eine gründliche Vordiagnostik kann bei der gezielten Suche nach einer Genmutation sowie der Interpretation unklarer Befunde sehr helfen. Zudem ist eine genetische Diagnostik nur hilfreich, wenn es sich um eine genetische Erkrankung handelt. Liegt zum Beispiel eine primäre Muskelentzündung vor, müssen andere Untersuchungen zum Zuge kommen. Deswegen sind Voruntersuchungen zur Eingrenzung der Erkrankung wichtig.


Wenn die Diagnose gestellt ist und Sie dem Patienten zum Teil schwere Erkrankungen wie ALS (Amyotrophe Lateralsklerose) nahebringen müssen, wie sieht die Reaktion in den meisten Fällen aus?

Gerade bei schwerwiegenden Krankheiten wie ALS müssen wir uns zunächst sicher sein, dass andere Ursachen ausgeschlossen worden sind. Generell ist es wichtig, sich sehr viel Zeit zu nehmen und den Patienten zu erklären, wie es zu der Diagnose kommt. Am besten sollten Angehörige als Begleitung dabei sein. Die Menschen, die zu uns kommen, wollen meistens eine Zweitmeinung erhalten und sind demnach schon etwas darauf vorbereitet.

Auf die Reaktion müssen wir Ärzte dann individuell eingehen – je nachdem, ob es eine emotionale oder sachliche ist. Zwar können wir nicht in die Zukunft schauen, aber der Patient muss offen über die Erkrankung informiert werden  und über mögliche eintretende Situationen Bescheid wissen. Wir teilen ihm dann mögliche Hilfestellungen mit. Zum Beispiel informieren wir ihn über den Einsatz künstlicher Ernährung, Beatmungstherapien oder Medikamente zum Beispiel gegen vermehrten Speichelfluss. Hierfür sind meist mehrere Gespräche notwendig und am Schluss entscheidet der Patient, welche Maßnahmen ergriffen werden sollen.


Viele Menschen denken bei einer Muskelerkrankung sofort an ein Leben im Rollstuhl – ist das begründet?

Es existieren Muskelerkrankungen, die zu einer Rollstuhlpflicht führen, ja. Andere wiederum bringen zum Beispiel relevante Begleiterscheinungen mit sich, die im ersten Moment nicht mit einer Muskelerkrankung in Verbindung gebracht werden. Komplikationen wie eine Herzmuskelschwäche, Herzrhythmusstörungen oder Atemnot sind möglich. Um den Fokus der Therapie richtig zu setzen, sind deswegen eine genaue Diagnose und regelmäßige Verlaufsuntersuchungen wichtig. Heutzutage kann auch dank des Fortschritts der Medizin die Selbstständigkeit bis ins hohe Alter erhalten bleiben.


Wie sieht es mit der Lebenserwartung aus – ist sie bei neuromuskulären Erkrankungen immer herabgesetzt?

Es gibt Erkrankungen mit einer eingeschränkten Lebenserwartung – das ist richtig. Durch die Fortschritte der Medizin ist das Leben heutzutage aber oft trotz schwerer Krankheit noch längere Zeit möglich, als es vor einigen Jahren der Fall war. Ein Beispiel ist hier die Duchenne-Muskeldystrophie. Bei dieser muskulären Erbkrankheit geht die Gehfähigkeit bereits im Jugendalter verloren. Früher sind die Patienten circa 20 Jahre alt geworden – dank intensiver medizinischer Betreuung hat sich die Lebenserwartung inzwischen deutlich erhöht.


Welche Behandlungsmöglichkeiten im großen Spektrum der neuromuskulären Erkrankungen stehen Ärzten und Patienten zur Verfügung?

Die Therapie des Patienten richtet sich ganz nach der jeweiligen Erkrankung. Sind die Beschwerden zum Beispiel bedingt durch bakterielle Erreger, kann ein Antibiotikum helfen. Autoimmunerkrankungen werden meist durch Immunsuppression also einer Unterdrückung des Immunsystems behandelt. Spielen Risikofaktoren wie Alkohol oder Vitaminmangel eine Rolle, gilt es diese natürlich zu vermeiden oder zu beseitigen. Aktuell wird auch intensiv und erfolgreich an der Therapie genbedingter neuromuskulärer Erkrankungen geforscht. Ein Beispiel für eine Erkrankung, für die Gen-(modifizierende) Therapien bereits zur Verfügung stehen, ist die spinale Muskelatrophie (SMA).

Gerade bei neuromuskulären Erkrankungen, die das ganze Leben bleiben werden, ist es wichtig, dass Patienten auch selbst aktiv werden. Regelmäßige Ergo-, Logo- und/oder Physiotherapie gehören dann teilweise für immer zum Alltag. Unterstützung erhalten Betroffene außerdem von Selbsthilfeorganisationen, wie zum Beispiel der Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke e.V. (DGM).

Deutsche Gesellschaft für Muskelkranke e.V. (DGM)

Die DGM ist eine Selbsthilfeorganisation in Deutschland für Menschen mit neuromuskulären Erkrankungen. Sie steht Betroffenen sowie Angehörigen mit Rat und Tat zur Seite und bieten ihnen unter anderem eine physiotherapeutische Beratung an. Die Mitarbeiter kümmern sich beispielsweise auch um sozialmedizinische Anliegen: Wie beantrage ich den Grad der Behinderung? Welche Rechte hat ein Patient mit Behinderung?

Zudem gibt es Beispielhäuser, die behindertengerecht eingerichtet sind. Betroffenen wird es dort ermöglicht, zur Probe zu leben. Interessierte können die DGM durch aktive Mitarbeit unterstützen.


Kann ein geschädigter Nerv wieder heilen, wenn er zum Beispiel durch eine Polyneuropathie in Mitleidenschaft gezogen wurde?

Ja, verletzte Nerven können prinzipiell wieder nachwachsen – theoretisch circa einen Millimeter pro Tag. Oder aber gesunde Nerven übernehmen die Aufgabe der geschädigten. Bei einer Polyneuropathie gilt es in erster Linie, die verursachenden Risikofaktoren zu vermeiden – also zum Beispiel einen Vitaminmangel auszugleichen. Hierdurch kann ein Fortschreiten der Erkrankung verhindert und gegebenenfalls eine Erholung ermöglich werden.

Herr Dr. Türk, vielen Dank für das Interview!

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Romina Enz Medizinische Fragestellungen sowie die Biologie des Menschen zählten schon immer zu ihren Leidenschaften – ein Grund, weshalb die Biologin Romina Enz von 2017 bis 2021 bei kanyo® arbeitete. Die tägliche Auseinandersetzung mit aktuellen Themen der Medizin in Kombination mit der Texterstellung bieten ihr als medizinische Online-Redakteurin die optimale Mischung aus Naturwissenschaft und Kreativität. Romina Enz Medizinredakteurin und Biologin kanyo® mehr erfahren