Zur Person

Prof. Dr. med. Susanne Trauzettel-Klosinski ist Ärztin in oberärztlicher Funktion an der Augenklinik des Universitätsklinikums Tübingen. Sie ist dort ebenfalls in leitender Position in der Forschungseinrichtung für Visuelle Rehabilitation.

Bild von Prof. Dr. Trauzettel-Klosinski. Sie spricht im Experteninterview über den Gesichtsfeldausfall durch Schlaganfall.
Frau Prof. Dr. Trauzettel-Klosinski, was ist das Gesichtsfeld?

Das Gesichtsfeld umfasst alles, was wir bei unbewegtem Auge visuell wahrnehmen. Wenn Sie geradeaus schauen und dabei einen bestimmten Punkt fixieren – zum Beispiel eine Vase – haben Sie, um diesen Punkt herum, noch Wahrnehmungen. Mit anderen Worten sehen Sie auch noch die Umgebung dieses Zimmers – obwohl Sie sie nicht bewusst betrachten.

Und was verstehen Experten dann unter dem Blickfeld?

Davon wird gesprochen, wenn wir die Augen bewegen. In diesem Fall können Sie natürlich sehr viel mehr in Ihrer Umgebung sehen.

Könnten Sie den Lesern den Begriff Gesichtsfeldausfall erläutern?

Gesichtsfeldausfall bedeutet, dass ein Teil der Umgebung nicht wahrgenommen wird – im normalerweise gesehenen Bereich verschwindet der Seheindruck. Das sollten Sie sich nicht als schwarze Wand oder Fleck vorstellen. Viel eher als fehlende Information. Wir haben alle ein Gesichtsfeld von 180 Grad. So registrieren Sie irgendwann einmal die Hände nicht mehr in Ihrem Gesichtsfeld, wenn Sie Ihre Arme nach hinten austrecken.

Gibt es verschiedene Gesichtsfeldausfälle?

Je nachdem, wo eine Sehbahnschädigung vorliegt, können unterschiedliche Gesichtsfeldausfälle entstehen. So sind etwa bei Erkrankungen der Sehnerven Ausfälle im Zentrum typisch.

Bei Schädigungen der Sehbahn oberhalb der Sehnervenkreuzung – in der Regel ist das beim Schlaganfall so – ist hingegen ein Gesichtsfeldausfall vor beiden Augen charakteristisch, der auf derselben Seite des Gesichtsfeldes liegt. Auch bekannt unter den Begriffen seitengleicher Gesichtsfeldausfall, Halbseitengesichtsfeldausfall oder homonyme Hemianopsie. Stellen Sie sich vor, dass Sie einer Person geradeaus auf die Nasenwurzel schauen. Dann sehen Sie im Fall eines homonymen Gesichtsfeldausfalls nur eine Hälfte des betrachteten Gesichts.

Sind beim Schlaganfall auch andere Varianten eines Gesichtsfeldausfalls denkbar?

Ja. So können die ganze Hälfte, nur ein Viertel (Quadrant) oder auch nur kleinere Teile des Gesichtsfeldes fehlen. Am häufigsten treten jedoch der Halbseitengesichtsfeldausfall sowie der Quadrantenausfall auf.

Grafik der Hemianopsie: Gesichtsfeldausfall bei Schlaganfall im Experteninterview erklärt.
Grafik, wenn Teile des Gesichtsfeldes fehlen: Gesichtsfeldausfall bei Schlaganfall im Experteninterview erklärt.
Grafik einer Quadrantenanopsie oben: Gesichtsfeldausfall bei Schlaganfall im Experteninterview erklärt.
Grafik einer Quadrantenanopsie unten: Gesichtsfeldausfall bei Schlaganfall im Experteninterview erklärt.
Warum führt ein Schlaganfall überhaupt zum Gesichtsfeldausfall?

Zunächst einmal entsteht ein Schlaganfall dadurch, dass das Versorgungsgebiet einer Arterie des Gehirns – entweder durch Blutungen oder Minderdurchblutungen (Ischämien) – geschädigt wird. Das primäre Sehzentrum ist im hinteren Anteil des Gehirns angesiedelt, dem sogenannten Hinterhauptlappen. Und wenn es an der Arterie, die diesen versorgt (Arteria cerebri posterior), zu einer Durchblutungsstörung (etwa durch ein Blutgerinnsel) kommt, ist ein Gesichtsfeldausfall möglich. Im Übrigen auch, wenn eine Arterie betroffen ist, die die Sehbahn im mittleren Bereich des Gehirns mit Blut beliefert. In Bezug auf einen Gesichtsfeldausfall ist dies jedoch seltener der Fall.

Verstehe ich es richtig, dass das Auge beim Gesichtsfeldausfall nicht direkt verletzt ist?

Das Auge selbst ist überhaupt nicht betroffen. Die Patienten haben in der Regel völlig normale Augen sowie Sehschärfe. Das bedeutet, dass die Stelle des schärfsten Sehens unbeschädigt ist.

In jedem Auge haben wir einen Sehnerv, der zur Sehnervenkreuzung führt. Nach dieser Kreuzung laufen dann von einem Auge die äußeren Fasern und vom anderen die inneren Fasern gemeinsam auf einer Seite des Gehirns weiter zum Hinterhauptslappen. Aufgrund dieses vereinten Faserverlaufs ist überhaupt der seitengleiche Halbseitengesichtsfeldausfall möglich. Der Gesichtsfeldausfall liegt immer auf der gegenüberliegenden Seite der Hirnschädigung.

Wirkt sich die Tatsache, dass oft noch eine gewöhnliche Sehschärfe besteht, auf den Alltag der Betroffenen aus?

Ja. Das ist der Grund dafür, warum viele Patienten nicht bewusst bemerken, dass ihnen ein Seheindruck von der Seite fehlt. Durch die normale Sehschärfe können sie weiterhin Details erkennen. Bei einigen Personen bestehen selbst beim Lesen keine Einschränkungen.

Das große Problem: Oft kommt es dann zu eigenartigen Unfällen. Betroffene rempeln zum Beispiel ständig an Schränken oder Türrahmen an. Oder auf dem Gehweg an Menschen, die sie vorher nicht gesehen haben.

Stimmt die Aussage, dass ein Schlaganfall nicht immer mit einem Gesichtsfeldausfall einhergeht?

Das ist korrekt. Es kommt immer darauf an, welches Gehirnareal betroffen ist. Ein Gesichtsfeldausfall ist nur möglich, wenn die Sehbahn in Mitleidenschaft gezogen wird. Auf etwa 30 Prozent der Schlaganfallpatienten trifft das zu.

Dann sind aber jedes Mal beim Schlaganfall als Ursache beide Augen betroffen, oder?

Nicht die Augen selbst. Jedoch sind immer die Gesichtsfelder beider Augen beeinträchtigt.

Grafik eines Halbseitengesichtsfeldausfalls im Experteninterview zu Schlaganfall.
Und das gleich stark oder kann das unterschiedlich sein?

Im Großen und Ganzen gleich stark. Es kommt ein wenig auf den Ort der Schädigung im Gehirn an. Manchmal kann es etwas ungleich verteilt sein. Aber in der Regel – und vor allem, wenn der Hinterhauptslappen betroffen ist, was ja den häufigsten Fall darstellt – ist der Gesichtsfeldausfall vor beiden Augen ziemlich übereinstimmend.

Bleibt ein Gesichtsfeldausfall für immer bestehen?

Bei etwa 38 Prozent der Betroffenen kann sich der Gesichtsfeldausfall wieder verbessern beziehungsweise sogar verschwinden. Nach 6 Monaten ist es jedoch sehr unwahrscheinlich, dass das eintritt.

Wenn es sich bessert, liegt das oft daran, dass sich manchmal zwischen kleineren Arterien Verbindungen bilden – sogenannte Kollateralen. Diese können den Schaden ganz oder teilweise kompensieren, indem sie die Blutversorgung mit aufnehmen. Außerdem darf das betroffene Gehirnareal noch nicht unumkehrbar (irreversibel) geschädigt worden sein.

Kann ein Patient aktiv etwas bei einem bestehenbleibenden Gesichtsfeldausfall unternehmen?

Natürlich – es gibt sehr gute Möglichkeiten. Und zwar die Methoden der Kompensation. Mit erlernbaren Augenbewegungen können Betroffene ihr ganzes Umfeld abscannen. Schauen Sie bitte kurz einmal im Zimmer hin und her. Sie können nun viel mehr vom Raum wahrnehmen als vorher. Dieses Abscannen lässt sich gezielt beim Gesichtsfeldausfall einsetzen. Über die gesunde Gesichtsfeldhälfte lassen sich die fehlenden Informationen beschaffen.

Sogenannte kompensatorische – wir Mediziner sagen auch explorative – Sakkadentrainingsmethoden sind in ihrer Wirksamkeit wissenschaftlich belegt. Dabei steht „Exploration“ für das Absuchen der Umgebung und „Sakkaden“ für schnelle Augenbewegungen. Die Methoden der Kompensation können die Orientierung, Mobilität und Lebensqualität eines Patienten verbessern.

Ist es auch möglich, dass sich wieder Sport treiben lässt?

Selbstverständlich. Fast alles ist durch ein Training denkbar. Nur Autofahren ist nach der jetzigen Gesetzeslage nicht erlaubt. Beim Fahrradfahren ist es etwas anders. Hier gefährdet der Betroffene sich eher selbst. Hier muss der Patient individuell entscheiden, ob er sich das zutraut. Am Anfang kann üben mit einer Begleitperson hilfreich sein. In der Regel fährt man mit einem Gesichtsfeldausfall jedoch auch nicht ganz so schnell Fahrrad.

Wo lassen sich kompensatorische Augenbewegungen erlernen?

Da gibt es noch manche Versorgungslücke. Häufig ist es so, dass Patienten, wenn sie nach dem Schlaganfall aus der Klinik in eine Rehabilitationseinrichtung kommen, die hilfreichen Augenbewegungen erlernen. In der Regel leiten Neuropsychologen (Psychologen mit Schwerpunkt Neurologie – Anmerkung der Redaktion) sie dort an. Meistens haben Schlaganfallpatienten jedoch weitere neurologische Ausfälle neben dem Gesichtsfeldausfall. Beispiele wären etwa Lähmungen, Schluck- oder Sprachstörungen. Diese können so stark im Vordergrund stehen, dass dem Gesichtsfeldausfall kaum Beachtung geschenkt wird. Ein spezielles Training für die Augen findet dann nicht statt.

Lassen sich kompensatorische Sakkadentrainingsmethoden auch außerhalb einer Rehabilitationseinrichtung durchführen?

Sogar zu Hause ist das möglich – mit speziellen Computerprogrammen. Auf dem Bildschirm müssen bestimmte Zahlen und Symbole gefunden werden. Dabei üben die Betroffenen, den ganzen Bildschirm durch Bewegung ihrer Augen abzuscannen. Mit der Zeit gelingt das immer schneller und genauer. Das Schöne daran ist, dass die erlernten Augenbewegungen, obwohl das Training am Computer erfolgt, auch im Alltag ihre Wirkung zeigen. Es ist aber hilfreich, wenn ein Augenarzt, Neurologe oder Neuropsychologe die Übungen des Computerprogramms am Anfang einmal erklärt.

Und was, wenn eine Person die Augenübungen lieber nicht selbständig durchführen möchte?

Hierfür gibt es beispielsweise Orthoptistinnen. Dabei handelt es sich um eine Berufsgruppe, die eng mit Augenärzten zusammenarbeitet und sehr viel vom Auge sowie Augenbewegungen versteht. Es existieren ganze Orthoptisten-Netzwerke, die kompensatorische Sakkadentrainings anbieten. Interessierte können sich beispielsweise bei ihrem Augenarzt oder im Internet (etwa auf der Seite des BOD – Berufsverband Orthoptik Deutschland e. V.) darüber erkundigen, wo es in der Nähe des eigenen Wohnortes ein solches Netzwerk gibt.

Wie oft sollten Augenbewegungsübungen durchgeführt werden?

Es empfiehlt sich ein ganz intensives Training der Augenbewegungen in der Anfangszeit. In den ersten sechs Wochen an fünf Tagen zwei Mal täglich eine halbe Stunde lang. Nach diesen sechs Wochen haben sich die gewünschten Augenbewegungen in der Regel beim Patienten stabilisiert. Dann reicht es, wenn noch ein bis zwei Mal in der Woche geübt wird. Die Länge der Übungseinheiten ist dabei individuell gestaltbar – je nachdem, wie stark sich eine Person noch vom Gesichtsfeldausfall beeinträchtigt fühlt. Häufig ist zum Beispiel eine Viertelstunde Training ausreichend. Es geht jetzt eigentlich nur noch darum, den Stand zu erhalten. So intensiv muss man nicht mehr weitermachen. Falls ein Mensch das jedoch möchte, ist dagegen nichts einzuwenden.

Gibt es einen Zeitpunkt, ab dem sich ein Training nicht mehr lohnt?

Selbst, wenn der Gesichtsfeldausfall schon viele Jahre besteht, lässt sich die Situation durch ein kompensatorisches Sakkadentraining noch verbessern.

An wen sollte sich eine Person im ersten Schritt wenden, wenn sie merkt, dass etwas mit ihrem Gesichtsfeld merkwürdig ist?

Das Beste wäre zunächst einmal der Gang zum Augenarzt, damit dieser über eine Gesichtsfelduntersuchung feststellen kann, ob ein Gesichtsfeldausfall vorliegt. Sollte sich der Patient noch in einer Rehabilitationseinrichtung befinden, empfiehlt es sich, einen Neuropsychologen oder Ergotherapeuten (sie helfen Personen dabei, Fähigkeiten wieder zurückzugewinnen, die sie beispielsweise aufgrund einer Krankheit verloren haben – Anmerkung der Redaktion) anzusprechen.

Frau Prof. Dr. Trauzettel-Klosinski, haben Sie abschließend noch Informationen, die Sie den Lesern gerne mitgeben möchten?

Das eine ist, dass es Kinder mit Gesichtsfeldausfällen – beispielsweise durch einen Schlaganfall – gibt. Auch bei ihnen ist ein kompensatorisches Sakkadentraining (etwa am Computer) effektiv.

Zum anderen möchte ich noch erwähnen, dass Trainingsmethoden fürs Gesichtsfeld angeboten werden, deren Wirksamkeit wissenschaftlich nicht bewiesen ist. Zum Beispiel versprechen manche Methoden, dass sich das Gesichtsfeld wieder regeneriert. Das erweckt falsche Hoffnungen bei den Patienten. Von Seiten der Wissenschaft aus, sind nur Maßnahmen, die mit exploratorischen Augenbewegungen arbeiten, zuverlässig. Im Zweifel empfiehlt es sich, Rücksprache mit einem Augenarzt zu halten.

Ich bedanke mich bei Ihnen für das spannende Interview!

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Regina Lopes Bombinho Brandt Aufgrund ihrer Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenpflegerin kennt Regina Brandt Krankenhäuser auch hinter den Kulissen. Durch ihr Studium der Sprach- und Kommunikationswissenschaften vermischen sich bei kanyo® ihre Kenntnisse in Sachen Online-Redaktion, Medizin und Kommunikation. Regina Lopes Bombinho Brandt Medizinredakteurin und Kommunikationswissenschaftlerin kanyo® mehr erfahren