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Das ganze Gespräch mit Dr. Güßbacher gibt es im kanyo®-Gesundheitspodcast zum Anhören.
Zur Person

Er ist ärztlicher Betreuer der Olympiastützpunkte Rhein-Neckar und Bayern: Dr. Albert Güßbacher, Facharzt für Orthopädie sowie für physikalische und rehabilitative Medizin in Nürnberg. Mit dem Schwerpunkt Sportmedizin und Sportorthopädie hat der Mediziner viel Erfahrung in der Behandlung von Sportverletzungen, weshalb er zudem mehrere Nationalmannschaften (unter anderem im Bereich Judo, Boxen, Gewichtheben) ärztlich unterstützt. Doch auch Patienten, die keinen Spitzensport ausüben, werden in seiner Praxis ganzheitlich beraten und behandelt.

Dr. Albert Güßbacher spricht im Interview über das Thema Rückenschmerzen.

Herr Dr. Güßbacher, heute wollen wir uns über das Thema „Rückenschmerzen“ unterhalten. Wir haben uns eine Studie vom Robert-Koch-Institut angesehen, in der mehr als dreiviertel der 11- bis 17-Jährigen angeben, in den letzten drei Monaten Rückenschmerzen gehabt zu haben. Was sind Ihrer Meinung nach Gründe dafür, dass nicht nur ältere sondern auch immer mehr jüngere Menschen an Rückenschmerzen leiden?

Allem voran ist hier der heutige Lebensstil zu nennen. Unsere Lebensweise ist stark vom Sitzen geprägt, die Jugend macht immer weniger Sport und verbringt mehr Zeit am Schreibtisch. Das macht sich am Halte- und Bewegungsapparat bemerkbar. Die Muskulatur wird nicht richtig ausgebildet, sondern verkümmert. Wenn sich die jungen Menschen dann bewegen, kann es zu viel Beanspruchung sein und Rückenschmerzen entstehen, weil die Muskeln nicht richtig trainiert sind. Zwar sind es dann meistens keine ernsten Rückenschmerzen, aber Verspannungen in Folge zu schwacher, nicht ausgebildeter Muskulatur.


Viele Menschen leiden unter „unspezifischen“ Schmerzen. Können Sie uns erklären, was das genau ist?

Bei etwa 80 Prozent der Patienten treten unspezifische Rückenschmerzen auf. Sie haben keinen fassbaren Grund und sind demnach nicht immer erklärbar.


Und was sind dagegen spezifische Rückenleiden?

Spezifische Rückenschmerzen kommen seltener vor – bei circa 20 Prozent der Betroffenen. Spezifisch sind die Beschwerden, wenn strukturelle Veränderungen an der Wirbelsäule nachweisbar sind. Dazu zählen zum Beispiel Knochenbrüche (Frakturen), Osteoporose, Bandscheibenvorfälle, Lähmungen oder Entzündungen der Bandscheibe.


In welche Bereiche des Körpers können Rückenschmerzen ausstrahlen? Gibt es vielleicht auch Körperstellen, die wir nicht direkt mit dem Rücken verbinden, die aber trotzdem damit zusammenhängen?

Natürlich. Rückenschmerzen können in Arme, Beine, aber auch nach vorne in Richtung Herz ausstrahlen. Viele Patienten kommen beispielsweise mit Herzschmerzen zu mir in die Praxis. Sie waren vorher schon beim Hausarzt oder Internisten und haben sich auf einen Herzinfarkt untersuchen lassen. Sind diese Untersuchungen ohne Befund, kann es sein, dass Rückenschmerzen die Beschwerden im Thorax (der Brust) verursachen.


Ist es dann auch bei Zahnschmerzen möglich, dass diese mit Rückenschmerzen in Verbindung stehen? 

Es ist weniger so, dass Zahnschmerzen bis in den Rücken ausstrahlen, jedoch können Eiterherde an der Zahnwurzel (die von Betroffenen dort gar nicht bemerkt werden) Rückenschmerzen verursachen. Solche „Fokusse“ können über Nerven die Rückenmuskulatur tangieren und dort zu Schmerzen führen. Auch Kiefergelenkprobleme sind mögliche Auslöser von Verspannungen.

Der Begriff „Fokus“ in der Medizin

Als Fokus oder auch Krankheitsherd wird in der Medizin eine Veränderung bezeichnet, die den gesamten Körper tangieren und schädigen kann. Ein Infektionsherd, zum Beispiel in den Rachenmandeln, kann in anderen Organen entzündliche Probleme verursachen.


Hat die Ernährung Einfluss auf Rückenschmerzen?

Die Ernährung spielt sicherlich eine wichtige Rolle, gerade in Zusammenhang mit Übergewicht. Die überschüssigen Kilos führen dazu, dass der Bauch nach vorne zieht. Dann muss die Rückenmuskulatur dagegenhalten. Ist sie schwach und nicht gut trainiert, verkrampft sie sehr schnell. Bewegungsmangel hat in beiderlei Hinsicht eine gravierende Bedeutung. Ein Teufelskreis zwischen Übergewicht und wenig Bewegung kann Rückenschmerzen verursachen.


Es gibt ja das Sprichwort „Man trägt die Last auf den Schultern“ – existiert wirklich ein Zusammenhang zwischen der Psyche und Rückenschmerzen?

Ja ganz sicher. Gerade in der heutigen Zeit mit immer mehr Stress im Privaten und Beruf führt die Psyche zu muskulären Verkrampfungen. Sehr häufig werden Rückenschmerzen auf psychosozialen Wegen mit verursacht.


Egal, ob seelisch oder körperlich bedingt – welche Behandlungen gibt es, um Rückenleiden zu lindern?

Es existiert ein breites Spektrum an Therapiemöglichkeiten, das der Arzt in die Wege leiten kann. Dazu gehören unter anderem muskelentspannende Maßnahmen wie

  • Wärme (Bäder, Sauna, Einreibungen),
  • muskelentspannende oder entzündungshemmende Tabletten,
  • entzündungshemmende Injektionen.

Meist erfolgen Behandlungen in Kombination mit Physiotherapie. Nach der Muskelentspannung ist es wichtig, die Muskulatur zu trainieren und wiederaufzubauen. Vor allem die Rumpfmuskulatur sollte zum Beispiel mit Trainingsgeräten oder Krankengymnastik gestärkt werden. Trainierte Muskulatur ist nicht so anfällig für Schmerzen.


Oft bekommen Patienten mit Rückenschmerzen Massagen verschrieben – was ist Ihre Meinung dazu?

Wenn sie gut praktiziert werden sind sie durchaus sinnvoll. Zu fest oder ruckartig können Massagen aber auch kontraproduktiv sein. Als Alternative sind eher passive Wärmeanwendungen ratsam.


Faszientraining wird momentan immer populärer. Ist die Anwendung von Faszienrollen hilfreich?

Faszientraining ist ein guter Teilaspekt bei der Rückenschmerz-Therapie. Faszien sind Muskelhüllen aus festem Bindegewebe, die den Muskel umgeben. Die Rollen lösen Verklebungen und entspannen Untersuchungen zufolge auch die Muskulatur.


Manchmal bringen konservative Maßnahmen wie Massagen keine Besserung und operative Maßnahmen sind notwendig, um die Beschwerden zu verbessern. Wann genau ist eine Operation bei Rückenschmerzen sinnvoll?

In seltenen Fällen ist eine Operation unumgänglich, und zwar dann, wenn die Bandscheiben die Ursache sind. Viele Bandscheiben machen keine Probleme, obwohl sie mit einer MRT (Magnetresonanztomographie) nachweisbar nicht an Ort und Stelle sitzen. Dennoch gibt es Situationen, in denen die Bandscheibe anhaltende Schmerzen verursacht oder zu neurologischen Ausfallerscheinungen führt. Dazu zählen beispielsweise Lähmungen oder eine Blasen-Mastdarm-Störung (Funktionsstörung beim Wasserlassen und Stuhlgang). In diesen Fällen sollte eine OP erfolgen.


Sie sind sehr viel im Profisport tätig – haben auch Profisportler mit Rückenschmerzen zu tun?

Natürlich können auch Extremsportler aufgrund zu hoher sportlicher Belastung Rückenschmerzen entwickeln. Das liegt dann aber meist nicht an einer untrainierten Muskulatur, sondern an einer zu geringen Regeneration (Erholung). Während der Sportlerbetreuung wird aber viel darauf geachtet, dass keine Rückenschmerzen entstehen. 


Auch viele Schwangere leiden vermehrt an Rückenschmerzen. Warum?

Das liegt meist daran, dass Schwangere eine untrainierte Muskulatur im Rumpf haben. Wenn der Bauch wächst, muss der Rücken dagegenhalten, damit die Frau nicht umkippt. Auch nach der Schwangerschaft, sobald Mütter Kinderwägen und Co. heben müssen, sind Verspannungen im Rücken nicht selten. Deswegen ist es wichtig bereits während des Kinderwunsches mit Bauch- und Rückentraining anzufangen.

Vielen Dank für dieses aufschlussreiche Interview!

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