Häufig gestellte Fragen zu Schleudertrauma
Der Begriff umschreibt keine eigenständige Krankheit, vielmehr einen Unfallmechanismus, bei dem Weichteile der Halswirbelsäule wie Muskeln und Bänder, aber auch der Kapselapparat der Wirbelbogengelenke sowie Wirbelkörper, Schaden nehmen.
Eine Eigendiagnose ist äußerst schwierig, die Bandbreite an möglicherweise auftretenden Beschwerden ist enorm. Sie reicht von Hinterkopf- über Nackenschmerzen und einen „steifen“ Hals bis hin zu schmerzenden Kiefergelenken, Schwindel sowie Gleichgewichtsstörungen.
Es dauert Tage bis wenige Wochen, bis die Nackenschmerzen, die sich wie Muskelkater anfühlen, sowie die Nackensteife an Intensität abnehmen.5 Dies führen Experten auf eine entzündlich-reparative Gewebereaktion, ausgelöst durch die vorausgegangene Gewebeschädigung, zurück.
Das Hauptaugenmerk liegt darauf, Kopf und Hals zügig wieder möglichst normal zu bewegen. Wer über längere Zeit in eine Schonhaltung verfällt, riskiert, dass die Halsmuskulatur an Kraft und Belastbarkeit verliert. Bei Bedarf dürfen Betroffene Schmerzmittel für maximal 4 Wochen und Muskelrelaxantien (Muskelentspannungsmittel) für maximal 2 Wochen einnehmen.7
In den überwiegenden Fällen heilt ein Schleudertrauma innerhalb weniger Tage bis Wochen komplett aus.2 Jedoch lässt sich nicht ausschließen, dass die Schmerzen chronisch werden.
Ja, sind nach vier Wochen die Schmerzen und Bewegungseinschränkungen unverändert und hat der Betroffene nach wie vor mit Einschränkungen in Job und alltäglichen Abläufen zu kämpfen, ist das Schleudertrauma chronisch.3
Ursachen & Entstehung des Schleudertraumas
Schleudertrauma, Beschleunigungstrauma, HWS-Distorsion, Peitschenschlag-Verletzung – selten gibt es so viele Begriffe, die doch alle ein und dieselbe Situation beschreiben: eine Weichteilverletzung im Bereich der Halswirbelsäule (HWS). Der Kopf wird plötzlich ruckartig zuerst nach hinten, dann nach vorne geschleudert. Das bedeutet, innerhalb von Millisekunden findet eine Überstreckung und Überdehnung der HWS statt.
War die Krafteinwirkung sehr stark, können in der Folge sogar Bänder gezerrt werden oder einreißen und auch Sehnen und Muskelfasern Schaden nehmen. Es besteht die Gefahr, dass aufgrund der entstandenen Gewebeschäden eine lokale Nervenreizung entsteht.
Schleudertraumen – nur durch Autounfälle?
Überwiegend führen Auffahrunfälle mit dem Auto zu einem Schleudertrauma. Zwar ist hier der Heckaufprall der „Klassiker“, doch auch ein Frontalzusammenstoß von vorne oder ein Seitenaufprall kann ein Schleudertrauma hervorrufen. Weitere mögliche Ursachen sind Sportunfälle (zum Beispiel beim Kampfsport oder bei Stürzen von Sprungschanzen) oder eine wilde Autoscooter- oder Achterbahnfahrt.
Allerdings ist anzufügen, dass der genaue Entstehungsmechanismus langwieriger beziehungsweise chronischer Beschwerden ungeklärt ist und weiterer Forschungen bedarf. In Hinblick darauf, dass sich so gut wie alle verletzten Personen ohne Erinnerungslücke an den Unfall erinnern können, scheint zumindest der sogenannte erlebnisreaktive Moment von großer Bedeutung zu sein. In einem Versuch Anfang der 2000er-Jahre wurde ein fiktiver Heckaufprall mittels sensorischer, akustischer und optischer Tricks inszeniert.
Etwa jeder fünfte Proband berichtete anschließend, an einem HWS-Schleudertrauma zu leiden, obwohl keine mechanische Belastung und somit keine Verletzung vorlag.5 Daraus ergibt sich: Weder das Ausmaß der Verletzung noch die Dauer langwieriger Einschränkungen sind allein auf äußere Kräfte zurückzuführen.5
Symptome: So äußert sich ein Schleudertrauma
Die Diagnose Schleudertrauma beschreibt eine enorme Bandbreite an Beschwerden, die – unabhängig vom Schweregrad der Verletzung und 0 bis 72 Stunden nach dem Ereignis – auftreten können.4
Dazu gehören:
- starke Schmerzen im Nacken (auch zunehmende Schmerzintensität in den ersten Tagen)
- Kopfschmerzen (teilweise spezifisch am Hinterkopf)
- ausstrahlende Schmerzen in Schulterpartie und Arme
- eingeschränkte Halsbeweglichkeit („steifer“ Hals)
- schmerzende Kiefergelenke
- Schluckstörung (Dysphagie)
- Schweregefühl im Kopfbereich (Betroffene äußern beispielsweise „Ich kann den Kopf nicht richtig halten.“)
- Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen
- Muskelverspannungen (aufgrund von eingenommener Schonhaltung)
- starke Müdigkeit
- Schlafstörungen
- Schwindel
- Gleichgewichtsstörungen
- Gangunsicherheit
- Ohrgeräusche (Ohrensausen, Tinnitus)
- Flimmersehen oder Verschwommensehen
Dass es beim HWS-Beschleunigungstrauma ohne zusätzliches Schädel-Hirn-Trauma zu einer Verletzung des Gehirns kommt, ist nicht belegt.5 Auch Knochen-, Bandscheiben- und Nervenverletzungen sind dank der Sicherheitsausstattung im Auto (beispielsweise Kopfstützen, AirBag) selten.
Doch Achtung: Babys sind besonders gefährdet. Die Kopfbewegungen bei einem Schleudertrauma ähneln denen eines Schütteltraumas (Shaken Baby Syndrome). Dabei wird das Baby in einer Überforderungssituation von einer Aufsichtsperson unkontrolliert geschüttelt, woraufhin sich das kleine Gehirn verschieben kann. Die massivsten Folgen für das Baby sind unter anderem Hirnblutungen und schwerste Hirnverletzungen. Im schlimmsten Fall endet das Schütteltrauma tödlich.
Wenn die Schmerzen nicht nachlassen – Ursachen chronischer Verläufe
Die Mechanismen, die zur Chronifizierung des Schmerzes führen, sind noch nicht bis ins Detail erforscht; eine Begründung hierfür ist die Ausbildung eines Schmerzgedächtnisses. Bestehen die Schmerzen aufgrund fehlender oder ungenügender Schmerzbehandlung über einen längeren Zeitraum, verändert sich mitunter die Signalverarbeitung im zentralen Nervensystem (Gehirn und Rückenmark) krankhaft. Das Nervensystem merkt sich negative Ereignisse wie eben den Schmerz und ruft diese später wieder ab – auch, wenn die Schmerzursache gar nicht mehr vorhanden ist.
Schweregrade des HWS-Schleudertraumas
Die Bestimmung des Schweregrads erfolgt international in Anlehnung an die Quebec Task Force (QTF, modifiziert nach Spitzer et al. 1995). In jedem der 5 Schweregrade ist von HWS-Beschwerden die Rede. Damit sind Probleme in der Hals- oder Nackenmuskulatur oder dem passiven Bewegungsapparat (sprich Gelenke, Bänder, Bandscheiben, Knochen) gemeint.
Hier ein paar Auszüge aus dem klinischen Erscheinungsbild in den einzelnen Schweregraden:5
- Grad 0: fehlende Symptome, weder HWS-Beschwerden noch neurologische Ausfälle
- Grad I: ausschließlich Schmerzen, Steifigkeitsgefühl oder Überempfindlichkeit an der HWS; keine Ausfälle
- Grad II: wie Grad I; zusätzlich Bewegungseinschränkung, Druckschmerzempfindlichkeit
- Grad III: HWS-Symptome wie unter I; des Weiteren neurologische Auffälligkeiten (zum Beispiel Teillähmungen, veränderte Muskeleigenreflexe)
- Grad IV: HWS-Symptome siehe unter I; und HWS-Bruch oder HWS-Verschiebung (Dislokation)
90 bis 95 Prozent aller Verletzungen sind als leicht bis mäßig einzuordnen, was den Schweregraden 0 bis II entspricht.5
Diese Faktoren beeinflussen, wie schwer die Verletzungen letztendlich ausfallen:
- Art und Schwere der Gewalteinwirkung
- muskuläre Anspannung (während des Unfalls)
- Kräftigkeit der Muskulatur
- körperliche Statur der Person6
Diagnose: Anamnese und körperliche Untersuchung fokussieren
Es braucht eine frühzeitige Diagnostik, um
- zügig alles für eine zielführende Behandlung in die Wege leiten zu können und
- das Risiko eines langwierigen Krankheitsverlaufs und der Chronifizierung zu senken.
Arztgespräch
Grundlage hierfür ist das Arztgespräch (Anamnese), in dem der Mediziner den Patienten bittet, den Unfallhergang sowie die Symptome so genau wie möglich zu beschreiben. Dabei ist auch an ein Trauma beziehungsweise an Hinweise einer akuten Belastungsreaktion nach dem Unfall zu denken, zum Beispiel Ängste, Überaktivität oder Rückzug. Diese gelten als Risikofaktoren für eine Chronifizierung des Schmerzes.
Hilfreich ist es – wenn möglich – zusätzlich auf Unterlagen beziehungsweise Protokolle anderer Mediziner zurückzugreifen, zum Beispiel auf die Daten des erstversorgenden Krankenhauses nach dem Unfall. Auch psychische Erkrankungen in der Vergangenheit sollten abgefragt werden, da diese das Risiko erhöhen, anhaltende Beschwerden zu entwickeln.
Körperliche Untersuchung
Es folgt eine gründliche körperliche Untersuchung, die nicht nur einen vorsichtigen Bewegungstest des Halses beinhaltet, sondern auch eine Prüfung und Dokumentation des sogenannten Neurostatus. Dazu gehören Aspekte wie Bewusstseinslage, Orientierung, Vigilanz (Wachheit), Motorik, Sensorik, Reflexe und Koordination. Auch das Vorliegen von Gleichgewichts- und Hörstörungen ist auszuschließen. Um die Diagnose abzusichern und mögliche Gelenkverletzungen oder dergleichen zu erfassen, braucht es Röntgenaufnahmen der Halswirbelsäule.
Canadian C-Spine Rule – Hilfe & Orientierung für die komplexe Diagnostik
Das strukturierte Untersuchungsprotokoll Canadian C-Spine Rule ermöglicht, sich einen guten Überblick zu verschaffen. Nach Abarbeitung der enthaltenen Punkte lässt sich entweder mit hoher Sicherheit eine strukturelle Verletzung der Halswirbelsäule (zum Beispiel ein Wirbelbruch) ausschließen oder die Notwendigkeit bildgebender Diagnostik – zum Beispiel eine Magnetresonanztomographie – begründen.
Bildgebende Diagnostik
Um bildgebende Verfahren wie Magnetresonanztomographie (MRT) oder Computertomographie (CT) durchzuführen, braucht es konkrete Anhaltspunkte, die für strukturelle HWS-Verletzungen sprechen. Etwa muss ein „gefährlicher Unfallmechanismus“ vorliegen.
- Dazu zählen Stürze aus über 1 Meter Höhe oder mehr als 5 Treppenstufen.
- Ebenso fallen Verkehrsunfälle bei einer Geschwindigkeit von mehr als 100 Kilometer pro Stunde darunter.
- Unfälle, bei denen sich das Unfallauto überschlagen hat oder der Betroffene durch die Wucht des Aufpralls aus dem Auto geschleudert wurde, gehören ebenfalls in diese Kategorie.5
Weitere Gründe für die Durchführung bildgebender Verfahren sind:
- anormale, unangenehme Körperempfindungen wie Kribbeln oder Taubheitsgefühle im Gesicht-, Schulter-, oder Armbereich (Parästhesien)
- eingeschränkte Rotation der HWS
- fokal-neurologische Ausfälle, beispielsweise Sprachstörungen oder Lähmungserscheinungen7
Sehr schwere Verläufe sind äußerst selten, doch im Fall der Fälle ist es erforderlich, dass sich Ärzte verschiedener Disziplinen (etwa Orthopädie und Neurochirurgie) frühzeitig vernetzen und austauschen.
Folgen der HWS-Distorsion – stark diskutiert
Tatsächlich ist die HWS-Distorsion etwas, das bei Ärzten und Versicherungsexperten für Kontroversen sorgt. Insbesondere die Frage, inwieweit zerebrale (das Gehirn oder Großhirn betreffende) Zusatzsymptome wie Kopfschmerzen, Schwindel und Ohrgeräusche mit dem Unfall in Zusammenhang stehen, ist sehr umstritten. Schließlich ist zu klären, wer für eventuell entstandene Unfallschäden haftet und für Schadensersatzzahlungen aufkommt. Insgesamt ist die Beurteilung eine sehr schwierige – Schleudertrauma-Patienten werden aufgrund der diffusen Symptome nicht selten auch als Simulanten abgetan.
Notfall-Tipp Nr. 1: Arzt aufsuchen
Nach einem Verkehrsunfall stehen Betroffene häufig unter Schock. Selbst wenn Sie äußerlich unverletzt sind – suchen Sie Ihren Arzt auf, der Sie gegebenenfalls an einen Orthopäden oder die unfallchirurgische Ambulanz eines Krankenhauses überweist. Bedenken Sie: Symptome können zeitlich verzögert auftreten. Eine unmittelbare Dokumentation durch einen Mediziner ist wichtig – nicht nur für Ihre Gesundheit, sondern auch, damit Sie im Fall eines Rechtsstreits eine durch einen Arzt bestätigte Diagnose vorzuweisen haben.
Behandlung: Trainingsaufbau, evtl. mit unterstützenden Medikamenten
Früher bekamen Patienten einen Schanz-Kragen (Halskrause) angelegt, um die Halsmuskeln zu schonen. Heute weiß man, dass eine mechanische Ruhigstellung dem Heilungsverlauf wenig zuträglich ist, sondern die Halsmuskulatur sogar zusätzlich schwächt. Deshalb wird bis auf wenige Ausnahmen (wie bei vorliegendem massivsten Bewegungsschmerz) darauf verzichtet.
Notfall-Tipp Nr. 2: Aktiv bleiben
Auch, wenn es schwerfällt: Achten Sie im Alltag darauf, eine Schonhaltung zu vermeiden, und sich stattdessen vorsichtig, aber möglichst normal, zu bewegen. Wichtig ist, nicht in die Spirale Verspannungen – Schmerzen – Schonhaltung – zunehmende Verspannungen zu kommen.
Im Fokus der Behandlung steht, eine Immobilisierung des Patienten zu vermeiden, da diese eine Chronifizierung der Beschwerden begünstigt, ähnlich wie das bei Schmerzen im unteren Rücken der Fall ist.8 Der behandelnde Arzt oder Physiotherapeut zeigt dem Patienten, wie er mit schonenden Dehn-, Lockerungs- und Bewegungsübungen den betroffenen Bereich entspannt und kräftigt. Auch Tipps zur richtigen Sitzhaltung unterstützen dabei, besser durch den Arbeitstag zu kommen – insbesondere, wenn Sie viel Zeit im Sitzen vor dem PC verbringen. Darüber hinaus können Tapes und sanfte Massagen der verspannten Muskeln Linderung verschaffen. Kälte, in Form eines Cool Packs, das für einige Minuten auf den Nackenbereich gelegt wird, kann das Abschwellen der Muskeln begünstigen.9
Physikalische Verfahren wie die beschriebenen lassen sich durch die Gabe von Medikamenten unterstützen. Allerdings sollten Schmerzmittel maximal 4 Wochen Anwendung finden, Muskelrelaxanzien maximal 2 Wochen.7 Bei Hinweisen auf eine möglicherweise bevorstehende Schmerzchronifizierung kann der behandelnde Arzt Psychotherapie und/oder Antidepressiva verordnen. Bekannt als Arzneimittel bei Depressionen, finden Antidepressiva auch bei Nervenschmerzen Anwendung, da sie die Schmerzweiterleitung im Rückenmark hemmen.
Wichtig ist, dem Patienten mitzuteilen, dass ein Schleudertrauma überwiegend mit einer günstigen Prognose verbunden ist. Betroffene sollten ermutigt werden, ihren gewohnten Tagesablauf möglichst zügig wieder aufzunehmen. Die aktive Mithilfe und eine positive Grundeinstellung sind in Hinblick auf rasche Genesung förderlich.